1. Das Verhältnis der Technischen Analyse zur Fundamentalanalyse und zur Random Walk Theorie
Mit Hilfe von Fundamentalanalyse
versucht man, den inneren Wert einer Aktie zu bestimmen. Der "innere Wert" ist
ein Wert, der der Aktie von einem bewertenden Subjekt beigelegt wird; er den
"inneren Wert" ist somit zu unterscheiden vom Börsenkurs der Aktie. Liegt der
innere Wert unter dem Börsenkurs, so sollte man die Aktie nicht kaufen bzw.
man sollte sie verkaufen, wenn man Aktienbesitzer ist. Liegt der innere Wert
über dem Börsenkurs, so sollte man die Aktie kaufen oder behalten, wenn man
schon Aktienbesitzer ist.
Zur
Ermittlung des inneren Wertes bedient man sich der Ertragswertmethode oder der
Substanzwertmethode oder einer Kombination beider Methoden. Bei der Ertragswertmethode
geht man von der laufenden Dividende aus, schätzt die zukünftigen Dividenden
und den Liquidationserlös und zinst diese Größen ab. Die Summe dieser abgezinsten
Größen ist der Dividendenertragswert der Aktie. Da man sich häufig keine Vorstellung
davon machen kann, ob und wann die Gesellschaft liquidiert wird, lässt man den
abgezinsten Liquidationserlös häufig weg. Dies ist deshalb vertretbar, weil
man in vielen Fällen mit einer Liquidation des Unternehmens erst in sehr entfernter
Zukunft rechnen wird und weil die Abzinsungsfaktoren in diesen Fällen sehr niedrig
sind. Bei einem Zinsfuß von 8 % und einer Abzinsung über 50 Jahre ist der Abzinsungsfaktor
1/(1 + p/100)t, wobei p den Zinsfuß und t die Zahl der Jahre bedeuten, 0,02131[1.1].
Das bedeutet, dass nur 2 % des geschätzten Liquidationserlöses sich im Barwert
niederschlagen.
Das große Problem bei der Bestimmung des
Ertragswertes ist die Schätzung der zukünftigen Dividendenbeträge. Hierzu gibt
es zwei Annäherungen. Die einfachste Methode ist, dass man die jetzige Dividende
mit dem dem Kapitalisierungszinsfuß entsprechenden Kapitalisierungsfaktor multipliziert,
bei einem Kapitalisierungszins von 5 % also mit dessen reziprokem Wert 20.
Eine etwas modifizierte Betrachtungsweise,
die nicht notwendig besser ist, nimmt die derzeitigen Gewinne pro Aktie als
Basis für die Schätzung der zukünftigen Dividenden und multipliziert die Gewinne
pro Aktie mit dem Kapitalisierungsfaktor. Einem unterschiedlichen Risiko der
einzelnen Aktie trägt man durch unterschiedliche Kapitalisierungsfaktoren Rechnung.
Die Dividende oder der Gewinn pro Aktie werden bei riskanteren Aktien mit einem
niedrigeren Kapitalisierungsfaktor multipliziert als bei sichereren Aktien.
Der Ertragswert gibt den Wert des Unternehmens
bei "normalem" Gang der Dinge an. So gut wie immer kann aber das Vermögen eines
Unternehmens auch zu anderen Zwecken verwendet werden als zu denen, denen es
im Unternehmen gerade dient. Den Wert des Unternehmensvermögens in alternativen
Verwendungen versucht man zu bestimmen, wenn man eine Substanzwertschätzung
macht. Man geht dabei von der Summe der Vermögenswerte, bewertet mit Buchwerten,
aus und zieht davon die Schulden ab. Den so gewonnenen Bilanzwert korrigiert
man, indem man vermutete stille Reserven hinzuzählt und vermutete Überbewertungen
des Vermögens in der Bilanz abzieht. So erhält man den Substanzwert. Man kann
sich bei der Bewertung des Vermögens auch völlig von der Bilanz lösen und Liquidationswerte
ansetzen. Je mehr man sich aber von der Bilanz löst, um so problematischer werden
die Schätzungen. Für eine außerhalb der Unternehmung stehende Person sind Substanz-
oder Liquidationswertschätzungen ähnlich schwierig wie die Schätzung der zukünftigen
Dividende.
Für den Anleger ist es häufig unmöglich, eine
Schätzung des inneren Wertes einer Aktie auf mehr als die laufenden Gewinne
und Dividenden zu stützen. Dies würde Einblicke in das Unternehmen erfordern,
die aufgrund der veröffentlichten Daten, also etwa der Bilanzen, auch bei größter
Sorgfalt und bei größtem Geschick in Fragen der Bilanzanalyse, für einen Außenstehenden
unmöglich sind. Darüber hinaus werden in Deutschland zirka 1000 Aktien gehandelt,
ganz zu schweigen von den zirka 10000 Aktien, die an der NASDAQ (National Association
of Security Dealers) und an der New York Stock Exchange (NYSE)sowie an der American
Stock Exchange (ASE) in New York gehandelt werden. Weltweit werden Ende 2000
ca. 24.000 Aktien gehandelt. Selbst wenn alle zur Ermittlung des inneren Wertes
notwendigen Daten für den Aktionär zugänglich wären, so könnte er aus rein zeitlichen
Gründen nur für sehr wenige Titel den inneren Wert bestimmen. Der Anleger ist
darauf angewiesen, den Bilanzanalysen von professionellen Anlageberatern zu
vertrauen. Diese sind mit ihren Empfehlungen stets sehr zurückhaltend, wenn
es darum geht, sich dazu zu äußern, ob die Aktie fallen oder steigen wird.
Hinzu kommt, dass Bestimmungen des inneren Wertes
einer Aktie, die über Dritte bezogen werden, in sehr vielen Fällen schon hoffnungslos
veraltet sind, wenn sie den Aktionär erreichen. Unterstellen wir etwa, dass vom
Ende eines Geschäftsjahres an nur drei Monate vergehen, bis die Bilanz des Unternehmens
veröffentlicht ist und dass der Analytiker einen weiteren Monat zur Erstellung,
zum Druck und Versand seiner Analyse braucht, so sind fundamentale Analysen,
sofern sie sich auf Daten stützen, die von den Unternehmen veröffentlicht werden,
in der Regel einige Monate alt. In Abbildung 1.1 ist der Kursverlauf von
Ballard Power Inc., einem Brennstoffzellenentwickler mit sehr viel
Zukunftsfantasie, im Jahr 2000 abgebildet. Die Aktie stand Anfang des Jahres bei 32
$. Sie stieg bis Anfang März auf 132 $ und sackte im Laufe des Jahres
auf 63 $ ab. Was war wohl ihr "innerer Wert"? Unterlag ihr innerer
Wert etwa im Laufe des Jahres denselben Schwankungen wie der Börsenkurs, weil
die Wachstumserwartungen der Firma starken Schwankungen unterlagen?1)
Abbildung 1.1: Kursverlauf von Ballard Power im Jahr 2000.
Auch Zinsänderungen und Unsicherheiten über den zukünftig herrschenden Zinssatz
führen zu erheblichen Schwankungen bei den ermittelten inneren Werten. Die Unsicherheiten
bezüglich des Kapitalisierungszinsfußes würden eine Prognose des inneren Wertes
selbst dann nahezu unmöglich machen, wenn die abzuzinsenden Größen, also die
zukünftigen Dividenden, exakt bekannt wären.
Fundamentalanalyse wird nicht nur von einem Anleger
betrieben, sondern von einer Vielzahl von Anlegern. Die Schätzung des inneren
Wertes von allen diesen Anlegern schlagen sich im Börsenkurs nieder. Daher muss
derjenige, der selbst zu einem anderen inneren Wert der Aktie kommt oder in
einem Börsendienst einen anderen inneren Wert der Aktie erfährt, diesem gegenüber
äußerst misstrauisch sein, da er oder der Analytiker sich bei seiner Bestimmung
geirrt haben kann. Wäre Fundamentalanalyse die allein zur Aktienbewertung verwendete
Methode, so schlüge sich im tatsächlichen Aktienkurs immer die Meinung der Mehrheit
über den inneren Wert der Aktie nieder. Das Vertrauen des Anlegers in sein eigenes
Urteil oder in seinen Börsendienst muss dann schon sehr groß sein, wenn er seiner
Einschätzung des inneren Wertes mehr vertraut als der der Mehrheit.
Häufig versuchen auf fundamentaler Basis operierende
Anleger nur die Richtung des Einflusses zu ermitteln, den ein aktuelles Ereignis
auf die fundamentale Situation des Unternehmens haben wird. Wenn wir auf unser
Beispiel Ballard Power zurückgreifen, so wird der Kurs infolge einer
Ankündigung von Ford steigen, nur noch Autos mit Brennstoffzellen zu
bauen, weil die Anleger davon ausgehen, dass dieses
Ereignis den Kurs positiv beeinflussen wird, aber um wie viel?
All diese Umstände lassen die Fundamentalanalyse zu
einem für den Anleger nur unter Schwierigkeiten handhabbaren Instrument werden.
Deshalb kommt der Technischen Analyse eine erhebliche Bedeutung zu. Der Techniker
stützt sich bei seinen Prognosen ausschließlich auf das Verhalten der Kurskurve.
Aus der Gestalt der Kurskurve versucht er, die weitere Entwicklung des Aktienkurses
vorherzusagen. Er geht davon aus, dass sich die für die fundamentale Bewertung
der Aktie maßgeblichen Informationen nur langsam ausbreiten und dass schon die
ersten Anzeichen einer veränderten fundamentalen Einschätzung in der Bewegung
der Kurskurve sichtbar werden. Für diese Annahme hat der Techniker fünf Gründe:
Erstens sagt er sich, dass es unwahrscheinlich
ist, dass gerade er besser informiert ist als die - Großzahl anderer die sieh
auch um eine richtige Einschätzung des Wertes der Aktie bemühen.
Zweitens geht er davon aus, dass die der
Gesellschaft nahestehenden Personen, das sind Aufsichtsratsmitglieder, Vorstandsmitglieder
und leitende Angestellte (Insider), wesentlich bessere Voraussetzungen für die
Abschätzung des inneren Wertes der Aktie haben, weil sie die wesentlichen Informationen
eher bekommen. Aus dem Verhalten der Aktienkurse versucht er, die Reaktionen
dieser Insider zu erkennen.
Drittens ist zur Auswertung von sogenannten
Aktiencharts (Kurskurven) wesentlich weniger Zeit erforderlich als zu einer
Fundamentalanalyse für eine vergleichbar große Zahl von Aktien. Die Charts aller
in Deutschland gehandelten Aktien lassen sich in etwa zwei Stunden konzentrierter
Arbeit auswerten. Daher ist die Chartanalyse gerade für den Anlageberater in
Kreditinstituten ein unverzichtbares Instrument. Während sich nämlich der einzelne
Anleger damit begnügen kann, seine Interessen auf eine geringe Zahl von Aktien
zu konzentrieren und diese intensiv zu verfolgen, wird der Anlageberater mit
Fragen von Kunden über die verschiedensten Aktien konfrontiert.
Viertens kann der fundamental operierende Anleger
nicht nur Verluste dadurch erleiden, dass er den inneren Wert der Aktie falsch
einschätzt, sondern auch bei richtiger Einschätzung des inneren Wertes können
sich Verluste dadurch ergeben, dass der Markt sich in entgegengesetzter Richtung
bewegt, weil andere den inneren Wert der Aktie falsch einschätzen. Falls er
nicht die Anlage über eine sehr lange Zeit plant, kommt es für ihn daher nicht
so sehr darauf an, abzuschätzen, was die Aktie wert ist. Er muss vielmehr abschätzen,
was andere glauben, was die Aktie wert ist. Keynes hat dies an folgendem Beispiel
erläutert:
"Professionelle Investitionen können mit einem Zeitungswettbewerb verglichen werden, bei dem die Teilnehmer aus 100 Fotografien von Frauen die sechs hübschesten aussuchen sollen. Der Preis wird dem Teilnehmer zugesprochen, dessen Wahl der Durchschnittsmeinung aller Teilnehmer am nächsten liegt. Damit hat jeder Teilnehmer am Wettbewerb nicht die Gesichter auszusuchen, die ihm selbst als die hübschesten erscheinen, sondern er muss jene aussuchen, von denen er am ehesten glaubt, dass sie den Gefallen der anderen Wettbewerber finden. Alle Wettbewerber aber betrachten die Geschichte von diesem Standpunkt aus. Es ist also kein Fall, in dem die Gesichter ausgesucht werden müssen, die einem selbst am besten gefallen. Noch ist es ein Fall, in dem die Gesichter ausgesucht werden müssen, von denen die Durchschnittsmeinung wirklich meint, dass es die hübschesten wären. Wir haben den dritten Grad erreicht, bei dem wir unsere Intelligenz darauf verwenden, herauszufinden, was die Durchschnittsmeinung erwartet, was die Durchschnittsmeinung ist. Und es gibt manchen, glaube ich, der den vierten, fünften oder einen höheren Grad praktiziert." [1.2]
Der fünfte Grund, der dagegen spricht, sich allein auf fundamentalanalytische Erwägungen zu verlassen ist, dass. markttechnische Faktoren trotz einer Unterbewertung der Aktie zu Verkäufen und trotz einer Überbewertung der Aktie zu Käufen führen können. Dies erklärt sich daraus, dass Aktien nicht nur aus fundamentalanalytischen Erwägungen heraus gekauft oder verkauft werden, sondern dass es auch andere Beweggründe für Aktienkäufer oder Aktienverkäufer gibt. Ein Aktionär kann aus irgendwelchen Gründen dringend Geld benötigen. Er kann zum Beispiel Steuernachzahlungen zu leisten haben, oder er hat Aktien auf Kredit gekauft und muss infolge sinkender Kurse diese Aktien liquidieren. Dann kommt es zu Verkäufen der Aktien mit der eventuellen Folge eines Drucks auf die Kurse, obwohl der Verkäufer davon überzeugt ist, dass der innere Wert der Aktie höher ist als der Marktwert. Genauso kann es auch zu Käufen kommen, ohne dass sich die Einschätzung des inneren Wertes der Aktie durch die Marktteilnehmer geändert haben muss. Beispielsweise können große Aktionäre bestimmte Mehrheiten in den Gesellschaften anstreben. Der Wert der zusätzlichen Aktien, die eine bestimmte Mehrheit in der Gesellschaft sichern, kann für sie sehr viel größer sein, als der auf die einzelne Aktie entfallende Teil des Wertes der Gesellschaft. In solchen Fällen kann es zu Kurssteigerungen kommen, die nichts mit dem auf eine Aktie entfallenden Teil des Wertes der Gesellschaft zu tun haben.
Obwohl die Chancen für das Gelingen einer Spekulation
größer sind, wenn man sowohl fundamentale als auch technische Methoden zur Aktienanalyse
benutzt, gibt es in der Praxis doch viele Personen und auch Institutionen, die
die eine oder die andere Art der Aktienanalyse bevorzugen. Man bezeichnet sie
als "Fundamentalisten" und als "Techniker".
Unter Akademikern, aber nicht nur unter
diesen, gibt es eine Kontroverse darüber, ob sich Aktienkurse vorhersagen lassen
oder nicht. Für viele Menschen stellen sich die Kursbewegungen von Aktien als
zufällig dar. Wenn wir die Methoden der Technischen Analyse kennengelernt haben,
werden wir in Kapitel 13 auf die Kontroverse zwischen
Technischer Analyse und der Theorie, dass sich Aktienkurse zufällig verändern
(Random Walk Theorie), noch einmal eingehen. Für den Anhänger der Random Walk
Theorie gibt es nur durch Zufall die Möglichkeit, bei der Aktienanlage mehr
als durchschnittliche Ergebnisse zu erzielen. Diese Theorie sollte aber niemanden
dazu veranlassen, dieses Buch beiseite zu legen und auf das Studium der Technischen
Analyse und Fundamentalanalyse zu verzichten. Die Random Walk Theorie setzt
nämlich geradezu voraus, dass sich sehr viele Techniker und Fundamentalisten
um die Prognose der Kursbewegungen bemühen. Die Kursbewegungen erscheinen dann
demjenigen als zufällig, der ihre Gründe nicht durchschaut. Verzichteten alle
auf Fundamentalanalyse und Technische Analyse, weil sich diese Bemühungen nicht
lohnen, und überließen die Kursbewegungen tatsächlich dem Zufall, so würde sich
bei einigen Aktien bald die Situation ergeben, dass der Kurs bei unveränderter
Dividende z. B. stark fiele. Dann würde der Kauf allein wegen der gezahlten
Dividende sehr lukrativ sein: Fundamentalanalyse erwiese sich wieder als sinnvoll.
dass Aktienkurse als sich zufällig verändernd betrachtet werden können, setzt
daher sehr große Anstrengungen der Aktienanalytiker voraus. Ließen diese Anstrengungen
einmal nach, weil sie sich nicht mehr lohnen, so würden sie wie dargelegt dadurch
sofort wieder lukrativ. Die praktische Konsequenz, die Sie aus der Random Walk
Theorie ziehen sollten, ist daher nicht, dass Finanzanalyse Zeitverschwendung
ist. Die praktische Konsequenz aus der Random Walk Theorie ist vielmehr, dass man sich als Finanzanalyst nur behaupten kann, wenn man sein Metier besser beherrscht
als die Konkurrenz.
1) Die Wachstumserwartungen beeinflussen den inneren Wert über die geschätzte Wachstumsrate g. Der innere Wert (C) eines Wertpapiers mit ewig konstant wachsender Dividende (D) ist
wobei i der Zinssatz und g die Wachstumsrate der Dividende ist. Die Formel ergibt sich, wenn man in der Summe einer geometrischen Reihe
n, die Anzahl der Jahre, gegen unendlich gehen lässt, sofern i > g. Geht g gegen i, so wird der Wert unendlich.